Ich denke mal, in Sachen Wagner PMC ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Da hat sich ein Kommandeur von Wagner per Video-Botschaft aus Weißrussland gemeldet und berichtete zum Beispiel, dass sie damals durchaus auf die Kadyrow-Truppen bei Rostov-am-Don gestoßen waren. Das war als die Kadyrow-Leute angeblich anrückten, um Wagners "Rebellion" zu beenden. Man hat sich dann kurz abgesprochen und festgestellt, dass man am selben Strang zieht und die Lage gleich einschätzt. Von daher haben die Kadyrow-Leute dann gemeldet: "Cheffe! Wir sind hinter Wagner her wie befohlen, stecken hier aber gerade im Stau fest! Wir melden uns, wenn es weiter geht." Und tatsächlich sind die Kadyrow-Leute dann auch gemächlich den Wagner-Trupp bis nach Moskau gefolgt, ohne dass es zu irgend einem "Feindkontakt" kam. Man war halt immer irgendwo einen Tick zu spät auf der Bildfläche.
Zum anderen verliert Russland gerade am laufenden Band hochrangige Generäle. Entweder als Folge des Großreinemachens nach dem Putsch, durch ukrainische Stormshadow, Arty- und MLRS-Schläge, oder im Fall von General-Leutnant Popov, weil sie keine geschönten Meldungen an die Führung durchreichten, sondern Tacheles redeten und wollten, dass dieser Tacheles auch in Putins Ohren landet. Der Fall Popov ist besonders interessant, weil der durchaus einen kompetenten Eindruck macht und dass man den nach 30 Jahren Dienst wegen Ehrlichkeit schasst? Der hat sich dann in einer Video-Botschaft von seinen Truppen verabschiedet und auch dort Klartext geredet. Ich würd' mich nicht wundern, wenn wir den bald entweder in Lefortowo sehen, oder in Belarus bei Wagner.
Arthur Rehi hat das auch in seinem
Video von gestern angesprochen.
Wie genau nun das Verhältnis von Prigoshin zu Putin ist? So genau weiß das keiner. Der ist auch definitiv noch länger in Russland gewesen, als ursprünglich bekannt gemacht wurde und es gab angeblich auch ein Treffen, bei dem Putin, Schoigu, Gerasimov und andere vom Generalstab und MOD mit Prigoshin im Gespräch waren. Über den Inhalt der Gespräche gibt es reichlich Spekulationen und auch einige Gerüchte und Vermutungen, aber nichts handfestes. Man hat Prigoshin wohl auch einen Großteil des bei der Hausdurchsuchung gefundenen Geldes (~54 Mio USD?) wieder ausgehändigt, allerdings lamentierte er wohl, die Untersuchungsbeamten hätten sich wohl die Taschen vollgestopft, weil es angeblich deutlich mehr Cash gewesen sein soll. Dem gegenüber steht, dass Wagner in Syrien quasi von der Armee entwaffnet und deren Offiziere festgesetzt wurden. Wagners "Engagement" in Afrika steht ebenfalls zur Disposition und ihre Rolle in Weißrussland ist unklar. Ob Russland es versteht, daraus noch mal einen operativen oder strategischen Nutzen zu ziehen, oder sich einen neuen Irrlauf einfängt muss man abwarten.
Auch interessant fand ich die Aussagen von General-Leutnant Popov bezüglich der Situation an der Südfront, wo er der Kommandeur war: Keine Munition (egal ob Arty oder sonst was), keine Artillerie-Spotter, kein Counter-Battery-Radare für die Arty und das, was sie noch an Arty haben, ist generell von kürzerer Reichweite als die Systeme der Ukraine, gegen die sie antreten. Bedeutet: Die eigene Arty feuert und ist dann sofort platt, weil die Ukrainer die Reichweite, Counter-Battery-Radar und Drohnen für Battle-Damage-Assessment haben. Zudem braucht die ukrainische Arty nicht mehr ständig die Position zu wechseln, da sie für die Russen "untouchable" ist: Zu weit weg und die russischen Flieger trauen sich dann auch nicht ran.
Bislang hatte man im Westen bei den Russen immer im Kopf: Die haben Panzer bis zum Abwinken, Arty bis zum Abwinken und Waffen (und Mun) bis zum Abwinken.
Panzer? Endgame. Nur noch Restbestände. T-72 sind durch und was bleibt ist alter Schrott und einige modernere Restchen in ganz kleiner Dosis.
Arty? Die Russen haben wohl noch 1500-1700 Arty-Systeme und damit doppelt so viel wie die Ukraine. Aber: Zu kurze Reichweite, kaum noch Munition und extrem ungenau, weil keine Radars oder vernünftiges Spotting.
Selbst bei Kleinwaffen ist Schicht im Schacht. Man bedenke bitte, dass die Russen seit 10-12 Jahren an ihrem "Vatnik"-Programm arbeiten. Das beinhaltete moderne Schutzwesten und Uniformen, integrierte Digitalfunke, Nachtsicht und eine neue Flinte (die AK-12) mit moderner Hologram-Sicht, Picatinny-Rails, Thermalsicht (sollte später dazu kommen), Wechsel-Läufe für diverse Kaliber (5.45×39mm von Hause aus, aber auch 7.62×39mm Option).
Angeblich sind bis 2021 rund 750.000 Einheiten Vatnik-Ausrüstung an die russischen Streitkräfte geliefert worden, aber gesehen hat die noch keiner - außer auf Waffenshows. Von der AK-12 sind wohl 37.600 bis 2020 an die Streitkräfte geliefert und die sind auch in der Ukraine eingesetzt worden. Viele davon sieht man heute als Trophäen in Büros der ukrainischen Elite. Selinsky hat eine, Budyanov (Geheimdienst), Verteidigungs- und Innenminister und andere auch. Im Prinzip wurde die AK-12 von Fachleuten und Frontsoldaten verrissen: Die hat Automatik, Doppel-Schuss-Abgabe, Einzelfeuer und "Gesichert" am Sicherungshebel und der verkackte Hebel rastete nicht ordentlich ein, oder man muss genau hinschauen und kann den nicht blind "nach Gefühl" umlegen. Die Thermal-Sicht ist nicht dabei, die Hologram-Sicht meist auch nicht und es passt auch nur der speziell für die AK-12 entwickelte Suppressor auf den Lauf, aber sonst kein anderer. Und der dafür entwickelte Suppressor ist so beschissen, dass Spezialeinheiten die AK-12 sofort wieder ins Eck stellten und ihre alten Flinten aus dem Schrank holten. Zudem hat die Knarre Probleme mit ihrer Verarbeitung, dazu ranzige Plastik-Teile und bietet ohne Hologramm-Sicht und dem Picatinny-Rails keine wirklich praktikablen Vorteile zur AK-74. Die AK-12 wurde dann überholt und es gibt eine neuere und wesentlich vereinfachte Version, die weniger Features und einige Verbesserungen hat. Aber auch da: Izhmash / Kalashnikov können nur in kleinen Stückzahlen liefern und die Qualität nicht halten.
Abgesehen vom Flop AK-12 sollte man meinen: Wenn Russland sonst nichts mehr hat? Dann haben sie noch BERGE von AK-74 (alle Varianten) und NATÜRLICH noch genug AK-47, um die bis zum Mond zu stapeln. Logisch, oder? Wenn nicht die Russen, wer denn sonst?!?
Frage: Warum werden dann Mosin Nagant (mit Bajonett!), PPsh-41 und Lend-Lease Tommy-Guns an die Truppen ausgegeben? Nicht nur isoliert und hier und da mal, sondern fast schon systematisch?
Oder warum müssen sich 22 Soldaten zwei Flinten und eine handvoll Patronen teilen?
Antwort: Weil die Russen nichts anderes mehr haben und selbst davon nicht genug?
Der andere Gag ist noch: Die Ukraine hat mit 3-6 BTGs in den fünf Wochen "Offensive" mehr Gebiete zurückerobert, als die Russen in den sechs Monaten davor. Plus: Sie haben noch immer mindestens 9 der neuen BTGs in Reserve. Man hört da durchaus noch genug "Fachleute" lamentieren, das ginge alles nicht schnell genug und "Erfolge würden ausbleiben". Ich würd' da mal den Ball flach halten:
![ukr-div-conq.jpeg (745.94 KiB) 726 mal betrachtet ukr-div-conq.jpeg](./download/file.php?id=14440&t=1&sid=a59e0e3149c4654a7891806434bb613b)
- Divide et empera!
In dem Beispiel sieht man recht gut für einen kleinen Teil des südlichen Frontabschnitts die ukrainische Vorgehensweise. Die an sich in gleicher Form überall an der Front angewandt wird: Die Ukraine macht selektiv an 6-7 Stellen Druck und die dort isoliert stehenden russischen Einheiten kommen im Bredouille und schreien nach Hilfe. Die Russen haben keine operativen Reserven mehr, die den Namen noch Wert sind. Um da fix an einer Stelle der Front auszuhelfen, muss woanders was abgezogen werden. Und die Straßensituation ist dann auch nicht so toll, dass man da mal eben rüberhopsen kann. Ggf. müssen dann ziemliche Umwege gefahren werden. Und die Anzahl der möglichen Wege ist relativ begrenzt, den Ukrainern bekannt und liegen dann auch unter deren Überwachung. Und die putzen dann mal eben diese Kolonnen bequem auf dem Marsch mit Arty, MLRS und Drohnen weg. Hinzu kommt noch das übliche Chaos bei den Russen: Beim Verlegen fährt dann eine Einheit in ein frisch gelegtes Minenfeld, von dem sie noch nichts wussten, oder werden von anderen eigenen Truppen oder eigener Arty beschossen, weil die Kommunikation kacke ist und die rechte Hand nicht weiß, was die linke macht.
Die Ukrainer müssen sich dafür noch nicht mal groß bewegen, sondern mit lediglich etwas Druck von Einheiten die sowieso an der Front stehen, zwingen sie die Russen zum Agieren und zur Verlegung von Truppen aus anderen Frontabschnitten und sorgen dann für hohen Verschleiß, selbst wenn sie die nicht schon auf dem Marsch und aus der Distanz beharken.
An den tägliche Zahlen sieht man, dass die Ukraine nach wie vor den Hauptaugenmerk darauf hat, feindliche Arty, Air-Defense und Überwachungs-Systeme auszuschalten. Alles Dinge, die bei einem konzentrierten Vorrücken der Ukraine ggf. nochmal für unverhältnismäßig hohe Verluste sorgen könnte. Die Vermutung ist: So am Anschlag wie die Russen derzeit sind, reicht diese bedächtigen Vorgehensweise an sich aus, dass es irgendwann in naher Zukunft zu einem strukturellen Kollaps der Front in dem einen oder anderen Teilbereich kommt. Trotz des langsamen ukrainischen Vorgehens ist kaum ein Tag dabei, an dem die Russen weniger als 500 Tote (und vermutlich mehr als 1500 Verwundete!) haben. Alleine an Toten ist das jeden Tag ein BTG. Absolut irre. Und selbst wenn der erwartete Kollaps der Russen nicht kommt? Man kann dann auch so weiter machen wie bisher und wenn die F-16 da sind, hat man deutlich mehr Optionen, mal an einer Stelle so richtig Druck zu machen und zu puschen.