Langsam kristallisiert sich raus, dass die Ukraine wohl doch ganz ordentliche Fortschritte gemacht hat. Bei Mariupol waren es vor drei Tagen noch ~120km von der Front bis ans Meer und die Ukraine ist da auf breiter Front 16km tief in die russischen Verteidigungslinien rein. Da zeichnet sich allerdings auch ab, dass die Russen zwar viele Befestigungen haben, aber nicht genug Truppen, um alle zu sichern. Bedeutet: Die aus der ersten Linie rausgesprengten Truppen sammeln sich dann in der nächsten Linie dahinter und bekommen dann die nächste Packung ab. Die Gelände sind aber umfassend vermint und es werden von beiden Seiten auch ständig neue Minenfelder per Arty ausgelegt. Indessen verlegen die Russen weiterhin noch im großen Stil Truppen aus Kherson an diesen Teil der Front und da hat die Ukraine schon einige
Konvois mit FPV-Drohnen regelrecht massakriert - bzw. an anderen Orten mit Arty und MLRS reingehalten.
Die Eisenbahnlinien auf der Krim, welche sie im Norden mit Kherson und im Süden mit der Kerch-Brücke verbindet? Die Ukraine hat
beide Linien gestern gesprengt. Die Reparatur wird sicherlich einige Zeit brauchen und da man weiß, wie sehr die Russen auf Eisenbahn-Logistik angewiesen sind, ist das halt jetzt ein besonders guter Zeitpunkt.
Was diese Verlegung der russischen Truppen aus Kherson in den Bereich Mariupol angeht? Da machen sich derzeit ein paar Leute
interessante Gedanken. Am Oberlauf des Dnjepr sind noch weitere Staudämme (unter der Kontrolle der Ukraine) und da hat man wohl die Schotten so weit dicht gemacht, wie es geht. Um die Wassermassen, die in Kherson für "Land unter" sorgen etwas zu bremsen und die Situation nicht noch mehr anzuheizen. Auf der anderen Seite zeichnet sich auch ab, dass einige Gebiete da unten bereits schon wieder ganz gut abtrocknen und das warme Wetter trägt seinen Teil dazu bei. Zudem kommen an anderer Stelle auch einige Strukturen wieder aus dem Wasser hervor, die vorher überspült waren. So zum Beispiel die Fundamente einer 1944 gebauten provisorischen Brücke. Da ließe sich sicherlich "was basteln", wenn man die Pioniere entsprechend absichern kann. Zudem haben Deutschland, Niederlande und Schweden anfang des Jahres ja auch haufenweise
BV 206 amphibische Schlepper an die Ukraine abgegeben, die sich in so einer Pampe ja richtig wohl fühlen und auch strömende Gewässer queren können.
Dazu kommt: Die Ukraine hatte ja angeblich mindestens 35 BTGs für die Offensive vorgesehen. Wirklich im Kampfeinsatz verortet hat man bislang 2-3 davon, plus zwei unsichere Kandidaten. Die Leos und Bradleys waren prominent im Einsatz, die gespendeten T-72, T-55 und Challenger 2, Marder und einige andere leicht zu identifizierende Spenden jedoch noch nicht. War ursprünglich vielleicht geplant, dass der Hauptvorstoß der Ukraine über Kherson erfolgen sollte? Und die Sprengung des Staudamms hat das (bislang) verhindert? Da stellt sich auch die Frage: Für wie lange? Mit dem Abzug der meisten russischen Truppen dort dürfte ggf. in einigen Tagen bedingt durch fallenden Wasserstand und abtrocknen der überfluteten Gebiete ggf. die Chance für eine "Operation Sichelschnitt" bestehen. Ansonsten bleibt abzuwarten, wo die Ukraine ihre "Gespenster-BTGs" in die Bresche wirft, denn wirklich an der Front sind die wohl noch nicht, oder werden bislang bewusst in Reserve gehalten. Auf der anderen Seite erstaunt dann schon, dass die wenigen eingesetzten Truppen der Ukraine bereits solche Geländegewinne machen konnten.
Ansonsten? In den USA haben sowohl Reps als auch Dems eine Petition eingereicht, den Ukrainern endlich ATACMS für die HIMARS freizugeben. Und es wächst wohl in den USA die Zurückhaltung, M1 Kampfpanzer an die Ukraine abzugeben. Man wollte ja nie so recht und wollte lieber Leos verheizt sehen, als zu riskieren, dass "platzende" M1's die Verkaufschancen ins Ausland trüben. Oder schlimmer noch: Welche vor der US-Botschaft in Moskau ausgestellt werden. Und die Bilder, die man bislang von den Leo 2's in der Ukraine sieht, sind durchaus weniger ermutigend. Das mag zum einen an der untypischen Art und Weise liegen, wie sie von der Ukraine eingesetzt wurden. Und man muss es auch klar sagen: Die Bilder wirken auf Laien zumindest so, als wenn das Zeugs nichts taugt. Beispiel: Leo 2 wird von Drohne getroffen, weißer Rauch steigt auf, Feuer bricht aus, und "cut", aus ist das Bild. Dass der Leo hinten am Turm getroffen wurde und da gerade die Rauchgranaten im Granatwerfer abbrennen? Und/oder die Halon-Löschanlage an geht? In einem anderen Video war ein Seiten-Treffer am Rumpf eines Leo 2 zu sehen. Da
brannte dann ein Treibstofftank ab, aber das war sicherlich kein "Mission-Kill". Und ja: Es hab auch Totalverluste, oder Leo 2, die von der Besatzung nach Treffern aufgegeben wurden, die an sich jeden anderen KPz ebenfalls gekillt hätten.
Da zeigen sich dann auch die
Schwächen vom Leo 2A4, 2A6 und auch 2A7: Die obere Turmpanzerung ist nur 30-70mm dick und auch jene auf der Rumpfoberseite beim Fahrer und der Kabinen-Munition links vom Fahrer ist nur ~40mm dick. Bei "top attack" von Drohnen oder anderen Flugkörpern ist das zu wenig und war es schon immer. Weil: Ohne FlakPanzer/FlaRak eingesetzt und ohne aktiven Selbstschutz wie "Trophy" sind diese unnötige Verluste dann einfach vorprogrammiert. "Trophy" mag gegen APFSDS nur bedingt wirken, aber gegen Lenkwaffen hat es mehr als 90% Effektivität. Aus einer Drohne im Endanflug macht das aber in sicherlich fast jedem Fall Konfetti. Egal:
Die Ukraine will auf jeden Fall mehr Leo 2 - am Besten sofort. Der Stellvertretende Verteidigungsminister Melnyk sagte: "Each one is literally worth its weight in gold for the decisive offensive [...] the Bundeswehr is able to provide more than the 18 units delivered from its stock of more than 300. [...] The current number could be tripled without endangering Germany's ability to defend itself."
Vielleicht sollte man die Besatzungen ("Freiwillige") auch gleich mitliefern, oder die können in Polen mit einsteigen.
Ein anderer (positiver) Punkt: Die Russen lamentieren, dass sie der Ukraine nachts nur deutlich wenig entgegensetzen können, weil deren westlichen Nachtsichtgeräte halt um Längen besser sind. Den Vorteil kann die Ukraine aber wegen der extremen Verminung der zur überquerenden Gebiete nur ganz bedingt ausspielen, da die Minen nachts eben noch schlechter auszumachen sind. Von den sechs aus Schweden gelieferten Leo 2R Minen-Räumern hat die Ukraine dann auch gleich schon drei verloren.
Langfristig gesehen sind das Dinge, bei denen man im Westen nun definitiv hellhörig werden muss: Panzer, aber auch APCs und die PzH2000 brauchen Trophy (oder besser), Heeresflak muss quasi sofort wieder in vollem Umfang herbei und das "Spielzeug", was man bislang für Minenräumung vorgesehen hat? Das reicht nicht. Weder in Funktionalität und definitiv nicht in der Menge. Zudem sollte man zwingend sowohl das "Oslo-Übereinkommen" als auch die "Ottawa-Konvention" zur Disposition stellen: Arty und MLRS braucht zwingend auch Wirkmittel mit Submunition und besserer Streuwirkung und die Ächtung dieser Wirkmittel (Submunition und Anti-Personen-Minen) nützt nur dem Gegner, der sich ja offensichtlich auch nicht daran hält. Sowohl bei Drohnen als auch Drohnenabwehr muss ebenfalls zwingend und schnellstens und mit einem Urknall ein gravierender Paradigmenwechsel erfolgen. Die Russen zeigen gerade mit den verschiedenen Generationen von "Lancet"-Drohnen, wie es gehen kann, wenn ein Militär funktionierende militarisierte Drohnen-Wirkmittel in ordentlicher Proliferation an der Front hat. Die FPV-Drohnen der Ukraine sind nicht schlecht und fordern ebenfalls ordentlich Tribut. Aber sowas wie Switchblade-300/600 (oder vergleichbar) sollte die BW auch in jeder verdammten Kompanie im Gepäck haben - bis runter zu den Feldjägern und den Fernmeldern. Gag am Rande: Die Ukraine hatte Switchblade von den USA bekommen. Bislang hat man anscheinend noch kein einziges Einsatz-Video davon in den Netzen gesehen. Ob das im Kleingedruckten der Schenkungsurkunde stand? Keine Ahnung.