Herr Rossi hat geschrieben:
Wie kommst du darauf? Ich bin selbst seit bald 10 Jahren selbsständig. Ich zahle in die gesetzliche Krankenversicherung ein und habe zeitweise auch überlegt in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Wo greift das System da nicht? Der einzige Unterschied ist die Freiwilligkeit. Klar kostet mich das mehr als einem Angestellten, aber dafür muss man halt bei einer Selbsständigkeit eben auch ein wenig mehr Geld reinholen.
[...]
Verstehe ich nicht. Wenn ich meine Selbsständigkeit beende und keine Rücklagen mehr besitze, dann rutsche ich wie alle anderen in die Grundsicherung. Das bedeutet am Ende H4. Habe ich da was falsch verstanden?
Der Punkt wo das System nicht greift, ist halt der, wenn du mal mit dem Rücken zur Wand stehst. Wenn es für einen Arbeitnehmer mal schlecht läuft, kann er ggf. zum Sozialamt gehen und aufstocken. Auch die Kreditvergabe der Banken ist bei Arbeitnehmern anders - wegen regelmäßigem Einkommen und Pfändbarkeit des selben. Als Selbständiger kannst du - wenn es richtig, richtig schlecht läuft - lediglich zur Verbandsgemeinde gehen und den Laden abmelden. Vorher brauchst du auf Hilfe aus dem sozialen Netz nicht zu hoffen. Und selbst dann musst du erstmal all die wenigen noch verbliebenen Assets verbrennen. Dann ist garantiert die momentane Wohnung zu groß, Auto sowieso (auch wenn es eine zehn Jahre alte und voll abbezahlte Kiste ist). Dann gibt es vielleicht noch ein Grundstück, was auf deinen Namen läuft, aber jemandem in der Familie gehört und die nicht bezugsfertige Hausbaustelle wird dir auch unter die Nase gerieben. Ich hab mich Anfang 2012 deswegen mal fachkundig beraten lassen. Es hätte locker drei bis vier Monate gedauert, bis auch nur ein Cent Sozialleistungen geflossen wären, selbst wenn ich am selben Tag den Laden dicht gemacht und den Offenbarungseid abgelegt hätte. Auch diese Zeit ist ohne Reserven nicht zu überbrücken.
Laut der Schuldnerberatung sind es halt auch die wenigsten Selbständigen, die bei einer offensichtlich anstehenden Pleite im rechten Moment abspringen können und "Null-auf-Null" aus der Sache rausgehen. Oder zumindest mit überschaubaren Schulden. Wenn ich diesen Schritt irgendwann in 2012 gemacht hätte (egal zu welchem Zeitpunkt in 2012), so wären (wie angesprochen) halt aus überschaubaren unmittelbaren Verbindlichkeiten Schulden geworden, die ich bis an meine Lebensende nicht hätte bedienen können.
Da kommt dann auch noch hinzu, dass Rückstände aus der PKV zum Beispiel einen Effektivzins von 7,5% pro Monat haben und sich somit innerhalb eines Jahres (fast) verdoppeln. Wenn du diese 3-4 Monate PKV-Beiträge nicht überbrücken kannst, wird die PKV alleine schon zu einem weiteren Mühlstein um deinen Hals. Sagen wir mal du schuldest der PKV 1000 EUR (vier Monatsbeiträge). Selbst wenn du es dann schaffst, von deinem zukünftigen Harz-IV 50 EUR im Monat zusammen zu kratzen, um die PKV-Schulden abzustottern: Nach einem Jahr hast du 600 von Anfangs 1000 EUR Schulden bezahlt, oder? Irrtum: Das waren noch nicht mal die mittlerweile aufgelaufenen Zinsen und schuldest denen noch immer 30% mehr als die Höhe der ursprünglichen Forderung von 1000 Oschen. Nämlich weiterhin 1300,- EUR. Ist ziemlich krank, aber leider vom Gesetzgeber so gewollt. Jeder private oder gewerbliche Geldverleiher würde sich über solche staatlich festgeschriebenen Zinsgewinne freuen.
Wenn du in Deutschland eine Pleite hinlegst, kommst du auf keinen grünen Zweig mehr. Da nützt auch eine GmbH nur sehr begrenzt, den letzten Endes haftest du als Unternehmer dennoch mit allem, was du hast und jemals haben wirst. Die GmbH schützt dich bestenfalls vor Forderungen von Kunden und Lieferanten, nicht aber vor den Fußangeln der Banken, Versicherungen und des Staates. Gegen die des Staates ist aus Gründen der Steuergerechtigkeit nichts einzuwenden. Aber am Beispiel der PKV's sieht man halt auch, wie der Staat seine Pappenheimer belohnt. Gerechtigkeit sollte in beide Richtungen funktionieren, nicht nur immer in die Richtung, die deiner diametral entgegen liegt.
Herr Rossi hat geschrieben:
Was meinst du denn wo diese Preise herkommen? Nicht evtl. daher, dass das Gesamtniveau unter Inkaufnahme von viel Elend sehr viel niedriger liegt? Was meinst du woher deine Kunden deine offensichtlich wesentlich höheren Stundensätze zahlen können?
Genau, wo kommen denn die Preise her? Die setzen sich aus Materialpreisen und dem Stundensatz zusammen. Die drei Gramm Porzellan beim Zahnarzt kosten keine 400 EUR und auch keine 100,- EUR. Doch auch der Arzt hier vor Ort muss nicht mehrere Sprechstundenhilfen durchfüttern, die ihn als Arbeitgeber selbst bei prekärer Beschäftigung 40-50EUR/h kosten. Er muss heute nicht doppelt soviel für Strom bezahlen, wie vor 10 Jahren und seine eigene Krankenversicherung hat sich im Preis seit dem Jahr 2000 nicht vervierfacht. Seine Währung hat sich in dem selben Zeitraum nicht um die Hälfte im Wert verringert, noch zahlt er selbst 70% Steuern und Abgaben für den Luxus, in seinem Heimatland zu leben und zu arbeiten. Er hat auch keine Abgabenordnung im Nacken, die ihm genau diktiert, welcher Handgriff wieviel kosten muss und hat auch keine Quote von Kassenpatienten, die er pro Monat erfüllen muss. Er muss auch nicht auf Teile zurückgreifen, die in Deutschland durch viele Hände von dort beschäftigten Arbeitnehmern gelaufen sind und deswegen entsprechend hohe Grundkosten haben. Er hat keine Arbeitsstättenverordnung, die ihn ab dem ersten Mitarbeiter verpflichtet, für diesen einen Pausenraum, Umkleideraum, geschlechtsspezifisch getrennte Toiletten und einen eigenen Parkplatz bereitzustellen. Er mag mit anderen landesspezifischen Tücken hadern, aber ich glaube kaum, dass er dauerhaft mit einem deutschen Kollegen tauschen möchte.
Aber ich frag ihn beim nächsten Termin mal.
Herr Rossi hat geschrieben:
Du hast hier ein nicht gerade günstiges Bildungssystem mitgenommen, das bis hin zum Universitätsabschluss (wieder) kostenlos ist, hast soziale, rechtliche und gesundheitliche Sicherheit mitgenommen und all das kostet nunmal viel Geld. Wenn du auf dieser Basis nun nach Kolumbien gehst, dann hast du dort natürlich einen wesentlich besseren Stand bzw. bereits eine wesentlich bessere Ausgangssituation gehabt als viele in dem Land wohl überhaupt jemals erreichen könnten.
Ist auch nicht anders, wie bei vielen: Realschulabschluss und dann Lehre. Die fachliche Qualifizierung danach (Techniker in zwei Fachrichtungen + Handwerksmeister) wurde letztendlich selbst finanziert, bzw. aus Krediten. Die Abschlüsse an sich sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind, da das vermittelte Wissen in meiner beruflichen Praxis zu 98% irrelevant ist. Da spielt auch wieder die deutsche Mentalität eine Rolle: Wenn es kein Papier gibt, auf dem steht, "der kann das", dann bist du nicht qualifiziert.
Gut, es wurden keine Studiengebühren fällig. Da hast du recht. Aber auf der anderen Seite steht Kolumbien dem auch in nichts nach: Es gibt zwar ebenfalls Privatschulen und private Universitäten, aber das Niveau an den staatlichen Schulen und Universitäten ist nicht generell schlechter, als in Mitteleuropa. Auch gibt es BaFöG und/oder KfW ähnliche Förderungen für Studenten, die teils als Darlehen und teils aus dem staatlichen Bildungsfond gewährt werden. Latein-Amerika investiert recht viel in Bildung, was sich auch an der hohen Zahl der Schulen und Universitäten zeigt. Das soziale Netz alleine (oder dessen Fehlen) begünstigt nicht wirklich die Bildung. Es spielt aber schon eine Rolle, ob man sich gegen Bildung entscheiden muss, weil man nichts zu beißen hat - das ist klar. Aber nur weil Abkömmlinge von Harz-IV'lern theoretisch auch in Deutschland ihren Doktor machen können, ist das nicht wirklich das beste System der Welt.
Herr Rossi hat geschrieben:
Persönlich kann ich deine Entscheidung nachvollziehen. Es steht jedem frei sich seine Lebensumstände optimal zu legen, nur die Schlussfolgerung, die in der Kritik über die hohe Abgabenlast in Deutschland mündet, kann ich nicht nachvollziehen.
Ich hab nichts dagegen, Steuern und Abgaben für die Allgemeinheit zu bezahlen. Von mir aus auch 50%. Selbst wenn nur ein Promille der Steuerlast in Dinge investiert wird, die mir selbst irgendwann mal nutzen. Wie zum Beispiel Straßenbau und Erhalt (um mal ein griffiges Beispiel zu nennen). Das sind halt Kosten zum Allgemeinwohl. Dennoch halte ich das deutsche System (auch dank Europa) für komplett aus dem Ruder gelaufen. Selbst wenn ich die Lebenshaltungskosten durch Steuern rausnehme, gibt es zu viele Aufreger: GEZ, IHK-Zwangsbeiträge, überteuertes Gesundheits(un)wesen, den Fakt das jeder Betreiber eines Online-Shops ständig mit Post vom Abmahn-Anwalt rechnen kann, Verbringungsnachweise für Ausfuhren, hoher Verwaltungsaufwand, um steuertechnisch und handelsrechtlich mit der sich schnell ändernden Gesetzeslage konform zu gehen. Du kannst die kundenfreundlichsten AGB's der Welt haben, aber wehe dein "Jetzt Kaufen" Knopf hat nicht die amtlich zugelassene Beschriftung. Da zu argumentieren "Das gehört halt zur Selbständigkeit dazu" ist der falsche Denkansatz. Es ist ein Übel, dass dir aufgezwungen wird. In anderen Ländern lacht man uns deswegen aus und freut sich, dass der Staat bei deutschen Unternehmern als Bremsklotz wirkt und unsere Konkurrenzfähigkeit mindert.
Wieviel Zeit investierst du pro Woche in Verwaltung, Papierkram, Buchhaltung und so weiter? Überlege mal, wie viel davon wirklich zu deinem Nutzen (und dem deiner Kunden) ist und wie viel dir vom Staat und vom System aufgezwungen wird, nur um irgendwelche Lobbys, Interessengruppen und Verbände glücklich zu machen. Tut das Not?
Herr Rossi hat geschrieben:
Klingt mal richtig Scheisse und macht deinen Schritt mehr als nachvollziehbar, aber was hat das mit einer hohen Abgabenquote zu tun? Das klingt eher nach unternehmerischen Risiko, welches nicht aufging + privatem Pech.
Richtig, in erster Linie ist es unternehmerisches Risiko und mit weniger Optimismus hätte man diverse Fallstricke im privaten und geschäftlichen Umfeld vermeiden können. Wie das halt so geht: Erst hat man kein Glück und dann kommt noch Pech dazu.
Herr Rossi hat geschrieben:
Mit welcher Begründung hat dir die Bank eigentlich den Dispo aufgekündigt?
Muß kurz ausholen: Das Hausbau-Darlehen wurde mit dem Filialleiter ausgehandelt, der mich seit knapp 2003 direkt betreute. Jedoch gab es mit dem Fillialleiter im Laufe der Jahre so einige Deals, die nicht immer 100% korrekt waren. Bei einigen Gelegenheiten mussten Versicherungen aus Gefälligkeit abgeschlossen wurden, da deren Abschluss direkt oder indirekt Einfluss auf die anstehende Entscheidungen der Bank zu meinen Gunsten hatten. So auch beim Hausdarlehen: Neben den üblichen Sicherheiten musste (wieder aus aus Gefälligkeit) eine Riester-Rente abgeschlossen werden. Ich hatte 2005 mal 30K Kredit aufgenommen um den Dispo nicht antasten zu müssen. Zumal es sich bei dem damaligen Finanzbedarf auch nicht um Kosten für Lieferungen und Leistungen ging. Der Kredit wurde innerhalb von einem Jahr vorfällig zurückgezahlt, was mir beim Hauskredit positiv angerechnet wurde. Bei all den Mauscheleien mit der Bank stand auch der Dispo beim Hauskredit im Gespräch. Der Filialleiter erwähnte, dass eine positive Entscheidung zugunsten des Kredites normalerweise beinhalte, dass der Dispo reduziert wird. Da der neue Kredit aber privat sei und der Dispo geschäftlich, könne er das aber verantworten, dass der Dispo bleibt. Als der Dispo (nach Rücksprache mit dem Filialleiter) für eine Steuerschuld angetastet wurde, nickte er das zunächst ab. Ein paar Tage nach der Abbuchung kam der Rückzieher mit Hinweis auf Verstoß gegen die AGB, da Steuerschuld nicht in die Rubrik "Lieferungen und Leistungen" fallen. Da man fast ein Jahrzehnt fest auf die mündlichen Nebenabsprachen mit ihm zählen konnte, gab es hier halt auch nichts schriftliches, auf dass man sich Gerichtsfest berufen konnte. Stattdessen hab ich halt bis auf Konto und laufende Darlehen alles gekündigt, was im Laufe der Zeit unnütz abgeschlossen wurde.
Herr Rossi hat geschrieben:
Ich bin wohl der Letzte, der hier keine großen Probleme sieht, nur sehe ich in solchen Punkten wie einer hohen Abgabenlast nicht das Kernproblem. Das haben andere Länder auch und das bei gleichzeitig hohem Wohlstand. Das Problem sind eher die sozialen/wirtschaftlichen Verschiebungen in der Gesellschaft. Wenn ich als Konsequenz daraus aber z.B. in ein Land wie Indien auswandern würde, dann bräuchte ich die Entwicklung hier es gar nicht kritisieren, denn damit würde ich das Ende der Entwicklung für mein persönliches Lebensumfeld praktisch vorweg nehmen. :P
Auch das kann man sehen, wie man will. Nur weil ich ausgewandert bin, lasse ich mir das Recht zu Kritik ebensowenig nehmen, wie das Recht an der Wahlurne für Veränderungen zu kämpfen. Just zum Thema Abgaben und wie es woanders aussieht, war heute ein Artikel in "Die Welt". Unter den 27 Euro-Ländern liegt Deutschland auf Platz fünf der höchsten Abgaben:
http://www.welt.de/wirtschaft/article11 ... tsche.html
Herr Rossi hat geschrieben:
Da kann ich auch nur wieder das Beispiel Indien anbringen. Der Beschiss des Staates erfolgt hier immerhin halbwegs planmäßig. In Indien hingegen hast du fast noch mehr Bürokratie, musst aber praktisch für jeden Scheiss schmieren und für einige Sachen kommst du sogar nur mit Vitamin B weiter. Hinzu kommt eine absolut unterirdische Infrastruktur, die Investitionsprojekte, die man hier in einem halben Jahr durchziehen kann, dort zu einem Martyrium über viele Jahre machen. Weiterhin kriegst du viel blabla, aber funktionieren tut fast nichts. Da bevorzuge ich doch den kalkulierbaren Beschiss, denn damit kann ich vernünftig rechnen.
Klar, jedes Land hat seine eigenen Tücken. Kann auch hier aus der neuen Heimat Beispiele anbringen, die einen den Kopf schütteln lassen. Aber unterm Strich lebt und arbeitet es sich hier wesentlich freier und entspannter.