Pionic hat geschrieben: ↑21.03.2023, 20:27
Die Zahlen lesen sich natürlich beeindruckend, aber gerade die Unterstützung vom Chinesen mit mehr Elektronik könnte dem Ganzen wieder einen Schwenk in die andere Richtung geben, meinst du nicht? Tausch von Öl und Gas gegen Technologie, Stahl haben die Russen selbst...
Selbst wenn sie nicht in der Lage sind, das morgen auf die Kette zu kriegen, so ist meine Befürchtung doch, dass sie mittelfristig ordentlich was auf's Schlachtfeld schmeißen können - auch wenn es nicht der modernste neumodische Kram ist.
Die Israelis hatten mal so ein inoffizielles Motto: "Selbst ein alter Panzer ist besser als keinen Panzer zu haben." Und hatten daher grundsätzlich alle Panzer, die sie über die Jahre hin angesammelt haben (selbst Russen-Panzer) auf Halde gestellt. Im Yom-Kippur-Krieg haben sie dann selbst die uralten unmodifizierten Shermans und sogar T-55 ausgegraben und an die mobilisierten Reserven rausgegeben. Die Nützlichkeit alter Panzer und gepanzerter Fahrzeuge geht jedoch in einem hochintensiv-Konflikt mittlerweile gegen Null, weil die zu leicht neutralisiert werden können und dank mangelnder Optiken und zu schlechter "situational awareness" die mannigfaltigen und ernsthaften Bedrohungen, die auf sie einwirken können einfach nicht sehen. Das muss noch nicht mal ein anderer Kampfpanzer oder APC mit Anti-Tank-Bewaffnung sein. Schultergestützte Panzer-Abwehr (oder auf Stativ) geht durch so alte Panzer wie ein heißes Messer durch die Butter. Selbstmord-Drohnen, Lenkwaffen von Drohnen, Mörser-Granaten von Drohnen abgeworfen, Streumunition, Artillerie, Minen .... das volle Programm. Ohne moderne Panzerung, Sensoren, aktive/passive Schutzmaßnahmen sind das heutzutage nur noch rollende Särge. Insbesondere dann, wenn die Tanks ohne mechanisierte Infanterie vorgeschickt werden und dazu brauchst du dann wieder moderne APCs und Truppen, die diese Taktiken eingeübt haben und koordiniert vorgehen können. Und die vorrückenden MBTs/APCs müssen dann auch in die komplette Support-Struktur eingeflochten sein und ihre organische Flugabwehr haben, um Drohnen, Hubschrauber und Tiefflieger erkennen und abschießen zu können. Und mobile Arty/MLRS mit Counter-Battery-Radar, um gegen feindliche Arty einwirken zu können.
Dieser Kampf der verbundenen Waffengattungen ist den Russen so stark atropiert, dass sie Jahre (wenn nicht sogar Jahrzehnte) brauchen werden, um das vom Material und von der Ausbildung wieder erreichen zu können. Man konnte ja schon beim Vorstoß auf Kyiv in den ersten Kriegstagen sehen, dass die Russen das schon damals nicht gestemmt bekamen und heute haben sie selbst das trainierte Personal und "gute" Material von damals nicht mehr.
Selbst wenn die Chinesen denen morgen hunderte fabrikneue und moderne Kampfpanzer, APCs und allen Klimbim hinstellen, den eine moderne Armee braucht? Die werden sich (anders als die Ukraine) schwer damit tun, das schnell und vernünftig genug zu assimilieren und zu nutzen. Die Russen haben Offiziere und Soldaten, aber keine Unteroffiziere. Die Soldaten sind entweder Wehrpflichtige oder Zeitsoldaten und es gibt da auf der Soldatenebene keine nennenswerte Retention von institutionellem Wissen, wie es in anderen Armeen durch oftmals jahrzehnte lang dienende Unteroffiziere gewährleistet ist. Wir kennen das ja aus Literatur und Filmen zur genüge, weil es der Realität oft genug entspricht: Junger Leutnant frisch von der Akademie ist nun Zugführer. Hat all das Buchwissen im Kopf und "tolle Ideen", aber in Wirklichkeit null Plan, was Sache ist. Hat aber einen altgedienten Feldbwebel im Zug, der ihn dann einbremst, bei der Hand nimmt und an die Realität gewöhnt. Das ist ein Luxus, den die Russen nicht haben. Die haben ggf. eine Handvoll Leute im Zug, die im 4. Jahr der Verpflichtung sind und nun den faulen Lenz schieben und "die Frischlinge" alle Arbeit machen lassen. Und die sind quasi "Untouchables", weil sie wissen, wo die ganzen Leichen sind und welche Deals welche Offiziere untereinander oder mit Schwarzmarkthändlern haben. Haben selbst "Gefälligkeiten" mit dem Vorgesetzten des Leutnants anhängig und daher kann der die auch nicht ins Eck stellen.
In der Praxis (Kriegsfall oder Manöver) sieht es dann so aus, dass ein westlicher Leutnant selbst ohne Plan ein Bilderbuchmanöver hinlegen kann, sofern er auf seine Unteroffiziere hört. Weil die wissen, wie es geht. Und bei den Russen muss der Leutnant das gegen den Widerstand der Altgedienten und oft auch ohne deren aktives Mitwirken alleine stemmen.
Was die Ukrainer auch gelernt haben, ist das Improvisieren: Die Truppen von der kurzen Leine lassen. Auftragstaktik und lass die mal selbst entscheiden, wie sie das vorgegebene Ziel erreichen. Die Truppen vor Ort können besser entscheiden, wie die Lage wirklich ist, als die Planer daheim in der Hauptstadt am grünen Kartentisch. Bei den Russen ist es dann auch noch so chaotisch, dass die keine zentrale Führung haben, weil deren zwei Söldner-Truppen ("Wagner" und "Patriot") beide separate Kommando-Strukturen haben und ebenso wie die Donbass- und Luhansk-Milizen oder die Chechenen alle ihr eigenes Süppchen kochen - unabhängig davon, was Armee, VDV-Truppen (nominell eigene Kommando-Struktur) und die Marineinfanterie so machen. Da findet wohl auch kaum oder wenig Informationsaustausch statt, weil die gegenseitig in Konkurrenz um Erfolge sind.
In dem Sinne stellen die Ukrainer eine vereinte Front dar, wogegen die Russen ein unreformierbare Chaos-Truppe haben, die sowohl von Taktik und Material mittlerweile 50-60 Jahre ins Hintertreffen geraten ist. Es gibt durchaus Stimmen, die den Russen zutrauen, dass sie es irgendwann schaffen, sich zu modernisieren und wieder eine ernstzunehmende konventionelle Bedrohung repräsentieren könnten.
Siehe zum Beispiel hier. Aber im fortlaufenden Krieg werden sie das nicht schaffen. Und selbst danach würde das nur mit chinesischer Hilfe gehen. Nur: Wenn Russland den Krieg verliert, dann ist Russland nicht mehr Russland. Putin ist dann weg vom Fenster und man wird mit weiterer Balkanisierung und Zersplitterung des Landes rechnen müssen. Was dann mit dem zentralasiatischen und sibirischen Teil Russlands passiert, ist "everyone's best guess". Und China wird sich Waffenlieferungen nicht nur durch Rohstoffe bezahlen lassen, sondern durch handfeste Landnahme im Fernen Osten Russlands. Da geht es nicht nur um Rohstoffe wie Gas, Öl oder Erze, sondern auch und vor allem um Trinkwasser und davon hat China seit Jahren zu wenig und wäre auf die wasserreichen Gebiete bei Vladivostok angewiesen.
Letzter Punkt: Finanzen und Technik. Wenn Putin Uralvagonzavod sagt: "Was braucht ihr, um die Panzerproduktion auf 100% Auslastung hochzufahren?" und die ihm eine Summe nennen? Selbst wenn Russland dann die volle Summe reinbuttert, kommen bei der eigentlichen Produktion nur Kleckerbeträge an, weil auf allen Ebenen durch die Korruption Geld abgeschöpft wird. Es traut sich dann auch keiner zu sagen, dass man ggf. das Wissen verloren hat, wie man z.B. Geschützrohre für Panzer ordentlich härtet, weil die Maschinen dafür kaputt sind, die Techniker in Rente und die Hersteller der Maschinen einen auf die Embargo-Liste gesetzt haben. Ein Blick in die Fertigungs-Straßen von Uralvagonzavod und da siehst du überall Siemens, Schneider, Schlumberger, EFM, Festo, diversen italienischen Kram und ein wenig Japan. CNC-Fräsen von MAHO, Weiler, ERMAK, Emco und Spinner, aber nichts aus China. Wie lange sie den Kram ohne Hersteller-Unterstützung und nur mit Teilen vom Schwarzmarkt am Laufen halten können, ist offen. Nachhaltig und zukunftssicher ist das aber nicht. Die russische Ökonomie wird von der von Texas in den Schatten gestellt, allerdings hat Texas dann auch 5x das GDP von Russland, weil die einfach produktiver sind und technologisch deutlich durchdrungener und mit weniger Reibungsverlusten.
Und da zeigt sich dann auch die Absurdität Russlands an: Du hast ein riesige Landfläche, die aber weitgehend frei von Bevölkerung ist. Und die Mehrheit dieser Bevölkerung lebt an der Armutsschwelle und man hat nur die Wirtschaftskraft von Texas. Will aber in Sachen Militär auf den ersten drei Plätzen mitspielen. Das geht halt nur mit potemkinschen Dörfern und jede Menge Bluff. Ukraine ist "all in" gegangen und hat sich zeigen lassen, welche Hand Russland hat. Und da ist halt kein Straight Flush, sondern nur ein König und ein paar niedrige Nummern ohne besondere Wertigkeit. Russland hat noch ein paar Chips im Topf und kann noch ein paar Runden mitspielen, aber es hat keine Chance mehr, da als Gewinner rauszukommen.
Um den Kreis zu schließen: Was Russland jetzt noch aufs Feld werfen kann, sind noch mehr untrainierte, schlecht koordinierte und extrem schlecht ausgestattete frisch mobilisierte Soldaten. Und Ukraine hat an sich alle "Werkzeuge" und "Wirkmittel" (oder bekommt sie ständig nachgeschossen), um diese Bedrohungen auszuradieren. Es fallen im Westen angesichts der russischen Schwächen auch immer mehr die Hemmungen, welches Material man sich von den Russen zur Lieferung an die Ukraine verbieten lässt. Alleine die Gleitbomben, welche die USA an die Ukraine geliefert hat sind Force-Multiplier, der den Russen Albträume bereiten darf. Denn die können vor der Front abgeworfen werden und jede Bombe ist quasi ein Treffer - auf einem anderen Ziel. Minimales Risiko bei maximaler Effizienz. Die USA haben diese Technik seit den 90'ern und die Russen haben selbst heute noch nichts, was dem auch nur annähernd gleich kommt. Die Russen haben jetzt schon keine Lufthoheit über dem Schlachtfeld und mit dem Eintreffen der Mirage 2000 und anderer westlicher Flieger wird sich das noch mehr zu Gunsten der Ukraine verschieben. Und dann können deren verbliebenen MiG-29, Su-27, Su-24 & Su-25 auch wieder freier operieren und ihre neuen westlichen Abstandswaffen ungehemmter und mit weniger eigenem Risiko einsetzen.
Die Ukraine hat die Tage mitten auf der Krim (+80km von der Front weg) den wichtigsten Eisenbahn-Knotenpunkt angegriffen und einen Zug "platzen" lassen, der Kalibr-Cruise-Missiles nach Sewastopol transportierte. Die Entfernung war an sich fast zu weit für HIMARS, somit ist offen, mit was man da "gewirkt" hat. Drohne? HRIM-2, ATACMS? Ground Launched Small Diameter Bomb? Stormbreaker aus UK? Es war jedenfalls ordentlich und wirksam. Selbst die Lieferung von F-16 oder F-15 ist wieder im Gespräch, zumal nach dreiwöchigem Training von Ukraine-Piloten in den USA klar ist: Die brauchen maximal sechs Monate, um auf einer F-16 fit gemacht zu werden.
Was wir hier sehen, ist eine absolut asymmetrische Kriegsführung. Die Ukraine hat so langsam den Stand einer westlichen Armee erreicht (noch nicht ganz, aber in wichtigen Teilen) mit hoher Vernetzung, extrem guter Aufklärung (dank westlicher Sensor-Platformen und Informations-Sharing), ausgeprägter Individualität, Flexibilität und modernen Waffen, wogegen die Russen jeden Monat tiefer in der Altertümlichkeit versinken und dezentrale Warlords mit alten Flinten und frisch mobilisiertem und unwilligem Fußvolk Massenangriffe über offenes Gelände "fahren" lassen. Das war schon im 1. Weltkrieg dumm, aber gegen einen Gegner mit heutigen Sensoren und modernen und weitreichenden Wirkmitteln ist das so extem dämlich, dass einem die Spucke wegbleibt.